1,01 zwîvel, innerliche Unsicherheit, bezieht sich mhd. auf das Schwanken nicht nur des Intellekts, sondern auch des Willens und des Gefühls; hier deutlich unterschieden einerseits von der unstæte, Charakterlosigkeit, sittlichen Haltlosigkeit, Untreue; andererseits von der stæte, Charakterfestigkeit, Treue. Dieselbe dreiteilige Ethik findet sich im neunten Buche, wo die neutralen Engel, die Jans Enikel in seiner Weltchronik, Wolfram benutzend, direkt als zwîvelære bezeichnet, eine Art Zwischenreich zwischen den guten und den gefallenen bilden, vgl. auch 119,17 ff., wo Herzeloide ihren Sohn vor dem Teufel und dem zwîvel warnt. — herzen: das Herz ist nach der im Mittelalter herrschenden aristotelischen Anschauung der Sitz der ungeschiedenen inneren Eigenschaften, also auch der Gedanken. — nâchgebûr stm., Nachbar (nhd. Form entstellt).
1,02 muoz, drückt die Folge aus, Umschreibung des Futurums. — sûr, weiterer Begriff als nhd., allgemeiner Gegensatz von süeze, hier bitter.
1,03 gesmæhet unde gezieret ist, Schmach und Schmuck sind vorhanden. Die partic. treten an Stelle der abstrakten Substantiva, wie 82,13; vgl. nhd. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Wolfram braucht die beiden Formen smæhen und smâhen nebeneinander; doch ist die umgelautete Form nur im Willehalm durch den Reim belegt.
1,04 swâ, wo immer. — parrieren, Fremdwort für mhd. undersnîden, bunt, gestreift machen.
1,05 muot, bezeichnet den Komplex der Gedanken, der Gefühle und des Willens: die Gesinnung, nicht nhd. Mut; doch vgl. „mir ist wohl zumute“ und Komposita wie Hochmut.
1,06 agelster swf., Elster. — Mit dem schwarz und weiß gefleckten Gefieder der Elster wird die mit Zweifel verbundene brave Mannesgesinnung verglichen. Anregung zu diesem Bilde mag der elsterfarbene Feirefiz (57,27. 748,7) gegeben haben, jedoch ohne inneren Zusammenhang, da dessen Charakter durchaus nicht der eines Zweiflers ist. Doch findet sich dieses Bild schon bei dem altfr. Didaktiker Renclus de Moiliens (12. Jahrh.) im „Miserere“, wo der elsterfarbene Mensch, derjenige, welcher mit blutiger Hand Almosen reicht, in die Hölle kommt (in seinem Roman de Carité ist die Elsterfarbe des Teufels ein Zeichen des Hochmutes). Nach Wolfram ist aber der schwarz-weiß Gefleckte mit guter Charakteranlage nicht unbedingt der Hölle verfallen: der kann doch froh sein; denn er hat sowohl am Himmel als auch an der Hölle Anteil.
1,07 mac, mügen, objektives Können, Vermögen (= fr. pouvoir), hier „Ursache haben“. — geil adj., froh, heiter; die Bedeutung „mutwillig“, „ausgelassen“ führte zu dem nhd. Begriff „wollüstig“.
1,08 wande, wan, Hauptsatz einleitend: denn; Nebensatz einleitend: weil. — teil: das Geschlecht schwankt seit ahd. Zeit zwischen n. und m., bei Wolfram meistens stn., doch auch masc; vgl. 398,8. 402,23.
1,10 der unstæte (subst.) geselle, der Genoß der Untreue, der Charakterlose.
1,11 gar, ganz und gar.
1,12 vinster stf., Finsternis. — var (gen. -wes)adj. (nhd. nur noch in Komposita) farb; bezieht sich wie gevar auf äußere und innere Beschaffenheit.
1,13 sô, zeigt den Übergang zum entgegengesetzten an: dagegen hält sich (haben in den unkontrahierten Formen 2. 3. sg. = halten) an die weiße Farbe der mit den charakterfesten Gedanken. — Über diese Scheidung in Gut und Böse, in Licht und Finsternis vgl. 119, wo Herzeloide ihren Sohn über daz vinster unt daz lieht gevar belehrt.
1,15 bîspel stn., Parabel, Gleichnis (spel=Erzählung). — fliegende, geflügelt, mit Beziehung auf die Elster.
1,16 tump adj., unerfahren, unverständig; milder als nhd. dumm, oft nur „jung“ im Gegensatz zu wîse, das auch direkt „alt“ heißen kann.
1,17 mugen-s; s für es, gen. von ez, von dem Substantiv niht abhängig. — erdenken swv., zu Ende denken. — Wie schwer die Faßbarkeit der Konsequenz dieser Parabel, das „Ausdenken“ ist, sollen die folgenden Bilder erklären.
1,18 kan, kunnen, subjektives Können, Verstehen (= fr. savoir). — wenken swv., einen Wank machen, davonspringen.
1,19 alsam, verstärktes sam, ebenso wie; die Verstärkung mit al ist für Wolfram charakteristisch. — schellec adj., aufgescheucht, aufspringend, auffahrend, besonders von Pferden und Hunden gebraucht.
1,20 anderhalp, auf der andern Seite; halp, endungslose Form von halbe (stf.) wie wîs, stunt in adverbiellen Ausdrücken. — Mit Zinn wurde das Spiegelglas belegt, das Quecksilber kam erst später auf.
1,21 gelîchent, gleichen (dem Hasen); Prädikat zu zin und dem nach folgenden Subjekt des blinden troum. Visuelle Träume wurden auch den Blindgeborenen zugeschrieben, haben aber gewissermaßen noch geringere Realität als die der Sehenden.
1,22 roum stm., Rahm (noch jetzt dialektisch roum), das zarte Häutchen auf der Milch.
1,23 gesîn,(dauernd) existieren.
1,25 alwâr, praed. adj. mit al-Verstärkung; nicht adv. Der Sinn ist so zu verstehen: Ebenso wie der aufgescheuchte Hase entrinnt, verflüchtigen sich sofort das Spiegelbild und der Traum des Blinden, die ja nur eine leicht zerstörbare, kurzdauernde Oberfläche ohne greifbaren Gegenstand darbieten, so daß der Tiefsinn der Parabel den Unerfahrenen entgeht. Das soll noch ein neues Bild verdeutlichen, ausgedrückt durch einen lebhaften Fragesatz an Stelle eines Relativsatzes, wozu die Antwort als Nachsatz tritt: 26ff. „Wer mich an der Innenseite der Hand, wo gar kein Haar vorhanden ist, rupft [eine sprichwörtliche Redensart], der hat sehr nahe greifen gelernt.“ Ebensowenig, wie das möglich ist, können die Leute das Gleichnis erfassen.
1,29 vorhte stf., Furcht und das, was Furcht erregt. — och, Interjektion des Schmerzes.
1,30 witze stf., Abstraktum zu wizzen: Verstand, Einsicht, Weisheit. Der Vers ist ironisch: wenn ich dieser Furcht gegenüber ach! spreche, so entspricht das meinem Verstande, d.h. so zeigt das, wie dumm ich bin.